Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2025

Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Landtages,

sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte,

sehr geehrter Herr Kopp (Honorarkonsul),

liebe Chemnitzerinnen und Chemnitzer,

liebe Schülerinnen und Schüler,

heute vor genau 80 Jahren haben sowjetische Streitkräfte das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Der Ort steht als grausames Symbol für den systematischen Mord an Millionen von Menschen: Jüdische Frauen, Männer und Kinder, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und politische Gefangene. Auschwitz steht für den Rassenwahn, der die deutsche Geschichte in dunkelster Weise geprägt hat. Doch es steht auch für das Schweigen derer, die das Grauen sahen und Bescheid wussten, aber nicht handelten.

Es gibt kaum Worte, die dem Schrecken gerecht werden, doch es gibt die Stimmen derer, die ihn überlebt haben. Sie erzählen von Hunger, Erniedrigung, Folter und Verlust. Eine Überlebende schilderte, wie sie als Kind gezwungen wurde, ihrer Mutter Lebewohl zu sagen, ehe diese zur Gaskammer gebracht wurde. Ihre letzte Erinnerung an sie sei ein Blick voller Angst und Liebe gewesen. Sich das nur vorzustellen, zerreißt uns das Herz. Jedes Mal, wenn ich solche Zeugnisse höre, steigen mir Tränen in die Augen – und Wut kriecht empor. Wut darüber, dass so viele weggeschaut haben. Wut darüber, dass Menschen fähig waren, andere Menschen systematisch zu entmenschlichen und zu ermorden. Und gleichzeitig fühle ich eine tiefe Ohnmacht. Wie konnten sie nur? Wie konnte es geschehen, dass Nachbarn zu Tätern wurden und Mitmenschen zu namenlosen Opfern degradiert wurden? Lediglich noch eine Nummer in dem scheinbar endlosen von Stacheldraht umzäunten Terrain.

Diese Fragen bleiben quälend und unbeantwortet.

Die Zeitzeugen werden von Jahr zu Jahr weniger. Bald werden wir die Geschichte ohne ihre Stimmen weitererzählen müssen. Die Geschichte, die wir uns selbst in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Doch umso mehr liegt es an uns, diese Erinnerungen wachzuhalten – nicht nur, um der Opfer zu gedenken, sondern um eine Zukunft zu gestalten, in der die Werte von Menschlichkeit, Würde und Freiheit uneingeschränkt Bestand haben.

Wir sind verantwortlich, die Lehren aus dieser Vergangenheit weiterzutragen und den Schwur „Nie wieder“ in unserem alltäglichen Handeln zu verankern.

Acht Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz erleben wir ein Wiedererstarken des Antisemitismus. Judenfeindliche Hetze, Gewalt und Verschwörungstheorien vergiften das gesellschaftliche Klima. In Deutschland, in Europa, ja weltweit. Dieses Wiederaufleben von Hass, der sogar Einzug hält in den politischen Diskurs, ist ein Alarmsignal, das wir nicht ignorieren dürfen.

Unsere Antwort darf nicht Schweigen sein. Unsere Antwort ist das Erinnern, das Mahnen, das Aufklären, den Opfern unsere Stimme leihen. Aber wir müssen ihnen auch Gehör schenken und dabei die aktuellen Entwicklungen im Auge behalten. Die Demokratie ist kein Naturzustand, keine Selbstverständlichkeit. Sie muss gelebt und verteidigt werden, jeden Tag aufs Neue. Das Schweigen, das in den Jahren des Nationalsozialismus vorherrschte, darf sich nicht wiederholen. Es liegt an uns allen, es nicht dazu kommen zu lassen und klar Stellung zu beziehen. Gegen jede Form von Hass und Ausgrenzung. Wenn wir also in wenigen Wochen für die Bundestagswahl an die Wahlurne treten, müssen wir uns an die Opfer von Auschwitz erinnern. Der Aufstieg des Rechtsextremismus macht uns deutlich, dass wir niemals nachlassen dürfen, Demokratie und Menschenwürde zu verteidigen. Nie wieder dürfen Nationalsozialisten, Rechtsextreme oder Rassisten Verantwortung in unserem Land tragen – nie wieder dürfen wir es hinnehmen, dass es Gewalttaten solcher Gruppen gibt  – unser Rechtsstaat muss wachsam sein und das Recht durchsetzen.

Chemnitz trägt in diesem Jahr den Titel Kulturhauptstadt Europas. Dies bedeutet für uns Chemnitzerinnen und Chemnitzer eine besondere Verantwortung. Denn Gedenken ist ebenfalls Kultur. Die Frage ist, wie wir gedenken. Die Frage ist, was wir jeden Tag tun, wann wir widersprechen, wie vehement wir Ressentiments entgegentreten. Unsere Verantwortung ist, eine Gesellschaft zu schaffen und zu bewahren, in der Vielfalt und Freiheit selbstverständlich sind. Und unsere Verantwortung ist, nicht zu schweigen. Denn Schweigen ist Zustimmung – und das darf auf keinen Fall eintreten. Niemals dürfen wir tatenlos zusehen, wenn sich Menschenverachtung breitmacht.

Chemnitz, als Stadt des kulturellen Wandels und der Erneuerung, steht für ein Europa, das aus seiner Geschichte gelernt hat. Europa ist heute ein Raum der Freiheit und der Menschenrechte. Doch diese Errungenschaften sind zerbrechlich. Wir sind gefordert, aktiv zu werden, dass sie nicht verlorengehen. Bildung, Dialog und die Förderung eines kritischen Bewusstseins sind entscheidende Mittel, um der Verharmlosung und Verfälschung der Geschichte entgegenzutreten.


[Anrede], 

Mögen wir im Namen derer, die nicht mehr sprechen können, ein Vermächtnis des Lebens, der Wahrheit und der Versöhnung pflegen. Erinnern wir uns an ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Hoffnungen und Träume, die durch menschenverachtenden Hass nie fliegen durften. Lassen wir ihre Geschichten Teil unserer Verantwortung werden.


Der heutige Tag zeigt uns einmal mehr, unsere Erinnerungen mögen eine Brücke der Hoffnung sein – für uns, für die kommenden Generationen und für eine Welt, in der Menschenrechte niemals wieder in Frage gestellt werden. Mit Ihrer Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung zeigen Sie Haltung. Machen Sie das bitte auch weiterhin. Das hätte sich unser Ehrenbürger Justin Sonder auch gewünscht. An ihn erinnert ein Film, den die angemeldeten Schulen im Anschluss anschauen werden. Vielen Dank für euer Interesse. 


(Es gilt das gesprochene Wort)