Rede zur Kranzniederlegung anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Reichspogromnacht am 9. November 2025
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Landtages, sehr geehrte Mitglieder des Chemnitzer Stadtrates,
sehr geehrte Frau Dr. Röcher,
sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinde Chemnitz,
sehr geehrte Damen und Herren,
wir stehen heute an einem besonderen Ort – an der Stele, wo einst die Synagoge unserer Stadt stand. Hier, am Stephanplatz, existierte bis zum 9. November 1938 ein Ort des Glaubens, der Begegnung und des Miteinanders. In jener Nacht wurde dieser Ort zerstört – und mit ihm das Vertrauen und die Sicherheit unserer jüdischen Bürgerinnen und Bürger.
Die Reichspogromnacht markiert einen dramatischen Wendepunkt der deutschen Geschichte. Aus Ausgrenzung wurde Verfolgung, aus Hass wurde Mord. Synagogen brannten, Menschen wurden gedemütigt, verschleppt, erschlagen. Auch in Chemnitz wütete der Mob. Die Synagoge brannte nieder, jüdische Geschäfte wurden zerstört, Menschen aus unserer Stadt wurden entrechtet und deportiert.
Wir erinnern heute an diese Nacht, weil sie der Beginn eines Zivilisationsbruchs war, dessen Abgrund unaussprechlich bleibt. Aber wir erinnern auch, weil wir wissen: Gedenken ist die Voraussetzung für Verantwortung – und Verantwortung ist die Grundlage für Menschlichkeit.
[Anrede],
ich freue mich ganz besonders, heute einen Gast begrüßen zu dürfen, dessen Familiengeschichte so eng mit Chemnitz verbunden ist: Dr. Herbert Lappe aus Dresden.
Sein Vater Rudolf Lappe wurde 1914 hier in Chemnitz geboren. 1933 floh er – wie so viele andere Jüdinnen und Juden – vor dem nationalsozialistischen Terror nach England. Dort kam Herbert Lappe 1946 zur Welt, bevor die Familie schließlich 1948 nach Dresden zurückkehrte.
Dr. Lappe hat sich zeitlebens für das jüdische Leben in Sachsen eingesetzt – als langjähriges Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Dresden, in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und als Mitinitiator der Neuen Synagoge Dresden. Er hält Vorträge in Schulen, Gemeinden und Bildungseinrichtungen – und erinnert uns alle daran, wie wichtig es ist, das Erlebte immer wieder zu erzählen, solange Menschen das noch können.
Sehr geehrter Herr Dr. Lappe,
ich danke Ihnen, dass Sie diesen bedeutenden Tag mit uns in Chemnitz verbringen und dass mit Ihrer Anwesenheit die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlagen.
[Anrede],
wenn wir heute zusammenkommen, dann geschieht das nicht nur, um zurückzublicken. Es geschieht auch, um das Heute zu verstehen.
Seit dem 7. Oktober 2023 – dem Tag, an dem die Terrororganisation Hamas ein beispielloses Massaker in Israel verübte – hat sich die Welt verändert. Rund 1.200 Menschen wurden ermordet, Hunderte verschleppt. Und seither erleben wir einen erschreckenden Anstieg antisemitischer Übergriffe, Beschimpfungen, Drohungen und Gewalttaten.
Nicht nur an einem Tag wie heute sagen wir ganz klar: Es darf niemals wieder so weit kommen, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger Angst haben müssen, eine Kippa zu tragen oder sich auf Hebräisch zu unterhalten. Es darf nicht selbstverständlich werden, dass Synagogen unter Polizeischutz stehen müssen. Dass jüdische Studierende ihre Identität verbergen müssen, um sich sicher zu fühlen.
Antisemitismus ist kein Randproblem. Er ist eine Gefahr für unser Zusammenleben - für unsere Demokratie. Deshalb müssen wir ihn klar benennen, ihm widersprechen, ihm entgegentreten – immer, überall, entschieden. Der Rechtsruck in Deutschland, populistische Parolen, die Spaltung der Gesellschaft – all das zeigt, dass Demokratie kein Selbstläufer ist. Sie lebt von Menschen, die hinschauen, wenn Hassparolen laut werden, wenn Rassismus salonfähig wird, wenn Menschen diffamiert werden.
Chemnitz hat in den vergangenen Jahren oft bewiesen, dass das geht.
Ich denke an die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich in Netzwerken, Vereinen, Religionsgemeinschaften, Schulen oder Kulturprojekten engagieren.
Ich denke an die vielen Aktiven, die jedes Jahr Stolpersteine putzen, an die Buntmacher:innen, die das Gedenken auch am heutigen Tag mit Leben füllen.
Sie alle zeigen: Chemnitz ist eine Stadt, die Verantwortung übernimmt, die hinsieht, die nicht vergisst. Dafür danke ich Ihnen allen von Herzen.
[Anrede],
Gedenken ist kein Selbstzweck. Es ist Auftrag und Mahnung zugleich. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam weitergehen – im Wissen um die Vergangenheit, aber mit dem Blick auf eine bessere Zukunft.
Im Anschluss an diese Veranstaltung starten die Buntmacher:innen direkt hier am Stephanplatz mit den Lichterwegen. Es sind Zeichen der Erinnerung, der Hoffnung und der Verbundenheit. Sie symbolisieren, dass das Licht des Mitgefühls stärker ist als die Dunkelheit des Hasses.
Und auch das kommende Jahr steht unter einem besonderen Zeichen: 2026 begehen wir das Jahr der Jüdischen Kultur in Sachsen.
Die Eröffnung dieses Themenjahres findet hier in Chemnitz statt – mit Ausstellungen, Musik, Dialogen und Begegnungen. Besonders freue ich mich auf das Projekt „Threads – Verflechtungen“, das die Geschichten jüdischer Chemnitzer Familien erzählt – Familien, die entrechtet, vertrieben und ermordet wurden, deren Spuren aber wieder zu uns zurückkehren.
Das sind die Zeichen, die wir setzen wollen:
Zeichen für Erinnerung, für Dialog und für die Stärke unserer offenen, demokratischen Gesellschaft.
[Anrede],
der 9. November erinnert uns an die dunkelste Seite unserer Geschichte.
Aber er erinnert uns auch daran, dass es in unserer Hand liegt, wie wir die Zukunft gestalten.
Unsere Stadt, unser Land, unser Europa brauchen Menschen, die aufstehen, wenn es unbequem wird, und die für Humanität, Solidarität und Demokratie eintreten.
Lassen wir uns nicht von Hass leiten, sondern von Menschlichkeit.
Nicht von Angst, sondern von Verantwortung.
Nicht von Spaltung, sondern von Zusammenhalt.
So bleibt das Licht der Erinnerung lebendig – hier in Chemnitz und darüber hinaus.
Vielen Dank
(Es gilt das gesprochene Wort)