Fakten in emotionalen Debatten

Prof. Dr. Frank Asbrock forscht zum Sicherheitsgefühl der Menschen an Orten wie der Zentralhaltestelle

Chemnitz beheimatet das einzige kriminologische Forschungsinstitut in Ostdeutschland: das Zentrum für kriminologische Forschung Sachsen (ZKFS). 
Prof. Dr. Frank Asbrock leitet das Institut und erläutert im Macher-der-Woche-Interview, woher die Angst vor Kriminalität kommt. 

Warum ist Kriminologie ein so besonderes Forschungsfeld?
Prof. Dr. Frank Asbrock: Sehr viele Menschen haben eine Meinung zu Kriminalität – woher sie kommt und was man dagegen tun kann. Aber oft ist diese Meinung nicht sonderlich wissensbasiert. Es ist ein sehr emotionales Thema. Wir möchten zu einer faktenbasierten Sicht auf die Kriminalität beitragen.

Warum ist das Thema so emotional?
Jedem von uns wohnt die Angst um die eigene Unversehrtheit inne. Wir wollen, dass es uns gut geht. Abweichendes Verhalten bereitet uns Sorge. Wie stark, das hängt von vielen Faktoren ab, etwa davon, wo man wohnt oder von einer allgemeinen Sicht, die Welt sei ein gefährlicher Ort. Menschen fürchten sich zudem deswegen vor Kriminalität, weil diese in den Medien oft so krass dargestellt wird. Im »Tatort« geht es nicht darum, dass einem das Portemonnaie gestohlen wird. Dabei bilden den allergrößten Anteil an Straftaten, die die Polizei in ihrer jährlichen Kriminalstatistik führt, Diebstahl und Einbruch. Mord und andere bedrohliche Straftaten machen nur einen geringen Teil aus. Doch sie dominieren die Debatten.

Das ZKFS ist ein unabhängiges Forschungsinstitut mit derzeit acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Als An-Institut der TU Chemnitz wird es von dieser unterstützt. Prof. Dr. Frank Asbrock arbeitet als Professor für Sozialpsychologie an der TU Chemnitz.

Wirkt sich Wahrnehmung stärker auf das Sicherheitsgefühl aus als Fakten?
Korrekt. Wenn Sie Leute fragen, ob die Kriminalität in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat, sagen die meisten Ja. Das haben sie aber auch vor 20 und vor 30 Jahren geglaubt. Wir müssten also heute in einer fürchterlichen Gesellschaft leben. Tatsächlich nimmt die Kriminalität in Deutschland seit Jahrzehnten insgesamt eher ab. Sie steigt in Statistiken immer mal wieder an, und das muss man auch ernst nehmen, indem man nach den Ursachen schaut. Aber die Abbildung der Kriminalität ist schwierig: Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die jedes Jahr im Frühjahr veröffentlicht wird, zeigt nicht die Kriminalität in Deutschland, sondern die, die die Polizei mitbekommt, das sogenannte »Hellfeld«. Das »Dunkelfeld« bildet die Statistik nicht ab. Das versucht kriminologische Forschung.

Wodurch wird das Sicherheitsgefühl beeinflusst?
Hier wirken viele Faktoren ein – auch solche, die mit konkreten Straftaten gar nichts zu tun haben. Wichtig ist unter anderem die persönliche Reaktion auf Unsicherheit - also wie gut man zum Beispiel damit klarkommt, auf etwas keine Antwort zu erhalten. Wir finden in unseren Studien einen starken Zusammenhang zwischen der Angst vor Kriminalität und einer allgemeinen Sicht auf die Welt als unkoordiniert und gefährlich. Erfahrungen sind auch zentral: Vor einigen Jahren haben wir in Chemnitz eine Studie mit 500 Menschen durchgeführt und gefragt, in welcher Gegend sie wohnen und wie sicher sie die Innenstadt empfinden. Dabei kam heraus: Die Menschen, die in den äußeren Bezirken wohnen, fühlen sich in der Chemnitzer Innenstadt unsicherer als die, die dort leben. Denn die kennen sich dort aus und wissen, wie gefährlich es dort ist.

Hilft Polizeipräsenz, das Sicherheitsgefühl zu verbessern?
Nicht automatisch. Wenn ich in meiner Wohngegend auf einmal viel Polizei sehe, denke ich: Oh, was ist hier los? Wenn ich mir es nicht erklären kann, reduziert es sogar mein Sicherheitsgefühl. An Brennpunkten kann Polizeipräsenz helfen. Besser ist aber eine grundsätzliche Präsenz, daher halte ich persönlich die Polizeistation an der Zentralhaltestelle für eine gute Idee. Sie vermittelt dem Bürger das Gefühl: »Da ist jemand, da kann ich mich hinwenden«. Doch es wirkt nicht so bedrohlich wie Polizisten in voller Montur.

Kann eine Videoüberwachung helfen?
Sie reduziert Straftaten nicht unbedingt. Zwar dort, wo die Kameras sind, doch nicht eine Ecke weiter. Aber: Videoüberwachung erhöht das Sicherheitsgefühl. Und das ist wichtig, denn wenn keiner sich mehr traut, in die Innenstadt zu gehen, nimmt der Leerstand zu und die Attraktivität für die Bürger ab. Dann gehen nochmal weniger Menschen in die Stadt. Hier setzt unsere Arbeit an: Angst vor Kriminalität kann durchaus berechtigt sein, aber wir schauen, womit sie zusammenhängt. Faktoren wie Alter, Geschlecht, allgemeine Bedrohungswahrnehmung und vieles mehr spielen eine Rolle – und nur zu einem kleinen Teil die tatsächliche Kriminalität.

Erst kürzlich hat das ZKFS eine große Längsschnittstudie zur Kriminalitätswahrnehmung abgeschlossen, bei der über zwei Jahre die gleiche Bevölkerungsgruppe befragt wurde. Es handelte sich um eine der ersten Längsschnittstudien in der Kriminologie überhaupt.

Wie und wo bringen Sie Ihre Forschungsergebnisse unter die Leute?
Wir halten öffentliche Vorträge und haben zum Beispiel vergangenes Jahr eine Ausstellung in der Stadtbibliothek organisiert. Wir sprechen viel auf Fachtagungen und Workshops mit Menschen aus der Praxis: Sicherheitsbehörden wie Polizei oder Staatsanwaltschaft, Jugendhilfe, oder auch vor Politikerinnen und Politikern. Zudem sind wir auf Social Media aktiv. Gerade haben wir einen kurzen Film zum Thema »Freiheit und Freiheitsentzug« produziert, der zum Beispiel im Lokomov gezeigt wird.

Das ZKFS ist ein Verein, der Anfang 2021 auf Initiative der damaligen Koalition im sächsischen Landtag gegründet wurde. Neben der Forschung ist das Ziel, die Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass Menschen außerhalb der Wissenschaft erreicht werden.

Über Jugendkriminalität wurde zuletzt heftig debattiert. Nimmt diese zu?
Ja, Jugendkriminalität hat in der Polizeilichen Kriminalstatistik nach Corona zweimal in Folge zugenommen und ist aktuell etwa auf dem Vor-Corona-Niveau. Aber auch hier ist die Frage: Hat sie wirklich zugenommen oder schaut die Polizei nur genauer hin? Fakt ist, über Jahrzehnte ist zum Beispiel die Jugendkriminalität gesunken. Und: Jugendkriminalität und Jugendgewalt wächst sich aus. Das heißt, die meisten hören damit auf, wenn sie erwachsen werden. Nur ein sehr kleiner Anteil bleibt kriminell oder gewalttätig, das sind die Intensivtäter. Um die muss die Gesellschaft, die Justiz sich kümmern, keine Frage! Doch obwohl sie anteilig an der Gesamtbevölkerung nur einen kleinen Teil ausmachen, haben sie den stärksten Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Jugendkriminalität. Hier setzt unsere Arbeit an. Wir versuchen, die Statistiken einzuordnen und forschen zudem im Dunkelfeld.

Was bedeutet es für Chemnitz, dass ein in Ostdeutschland einmaliges Forschungsinstitut hier steht und nicht in Leipzig oder Dresden? 
Wir erhalten immer wieder sehr positive Rückmeldungen zu unserem Standort. Wir fühlen uns der Stadt verbunden und tragen unsere Arbeit gern in die Stadt hinein. Uns ist daran gelegen, zur Zivilgesellschaft von Chemnitz beizutragen.

Wo sehen Sie Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025?
Ich habe noch in keiner Stadt gelebt, in der es so einfach war, sich zu engagieren. Das ist toll. Es gibt viele kleine Initiativen, die 2025 etwas auf die Beine stellen wollen und mit denen hoffentlich viele Menschen ihr Bild von Chemnitz revidieren können, das noch sehr stark von den Ereignissen 2018 geprägt ist. Wenn man es durchzieht, die Stadt lebendig zu halten, kann die Kulturhauptstadt 2025 sehr schön werden.