Rede zur Jugendfreiheitskonferenz am 16. Juni 2025

Oberbürgermeister Sven Schulze hält eine Rede zur Jugendfreiheitskonferenz im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis
Foto: Marie-Sophie Roß

Sehr geehrter Herr Staatsminister Clemens,

sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer,

verehrte Gäste,

liebe Schülerinnen und Schüler,

Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, sind in einer Demokratie groß geworden. Was Ihnen selbstverständlich erscheint, ist es nicht. Vor 72 Jahren, am 17. Juni 1953 sind hunderttausend Menschen für ihre Vorstellung von einem besseren Land auf die Straße gegangen. Sprichwörtlich für seine Meinung einzustehen, das erforderte damals Mut in einem Staat, in dem Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit nicht vorgesehen war. Die Menschen, die damals demonstrierten, haben für ihren Mut teuer, sehr teuer bezahlt – mit ihrer Freiheit. 

Wir befinden uns in dem berüchtigten Kaßberg-Gefängnis. Dieser Ort spielte eine wichtige Rolle bei den Ereignissen des Aufstandes vom 17. Juni 1953. 

Ich selbst bin zwar in der DDR aufgewachsen, war aber zum Glück noch zu jung, als dass dieser Ort ein Teil meiner persönlichen Geschichte hätte werden können. 

Ich habe mir im Vorfeld Gedanken gemacht, was ich Ihnen erzählen könnte. Historische Fakten – kennen Sie. Bewegende Zeitzeugenberichte können Sie heute hören und erleben. 

Also, was erzählt man jungen Menschen über Freiheit, wo doch Freiheit so scheinbar selbstverständlich geworden ist in Ihrem Leben? So selbstverständlich, dass manche Dinge gar nicht als Ausdruck von Freiheit gesehen werden. 

Ich habe versucht mir vorzustellen, wie mein Leben jetzt aussehen würde, wenn es keinen 17. Juni 1953 und damit auch keinen Herbst ´89 gegeben hätte.

Meine jüngste Tochter hätte dieses Jahr Jugendweihe gefeiert. Nicht freiwillig, sondern um nicht ausgegrenzt zu werden. 

Mein Sohn, der gerade das Abi in der Tasche hat, hätte drei Jahre zur Armee gehen müssen, nur, um sich sein Wunschstudium zu ermöglichen.  Und auch das wäre fraglich gewesen, bei den vielen Westverwandten, die seine Eltern und Großeltern haben. 

Meine älteste Tochter, die sich für Mode interessiert und dieses Jahr in Argentinien war, hätte diese Reise mit mir niemals antreten können.

Mein eigenes Studium in England hätte es nicht gegeben, mein Engagement in der SPD hätte mich zur Kollaboration mit der KPD gezwungen, ins Gefängnis oder die innere Emigration gebracht. 

Es wäre nicht cool gegen Umweltverschmutzung zu demonstrieren, sondern gefährlich.

Der Chemnitzfluss hätte keine Lachse, dafür aber eine Menge Chemikalien zu bieten. 

Gewalttaten gäbe es auch, nur stünden sie nicht in der Zeitung. 

Zugriffe auf TikTok – Videos wären stark eingeschränkt und würden durch das Presseamt der DDR gelenkt und kontrolliert. 

Ein spontanes Kraftklub-Konzert vor dem Schauspielhaus wäre noch vor dem ersten Akkord von der Volkspolizei aufgelöst worden und die Band inhaftiert. 

Deshalb bin ich heute allen dankbar, die sich damals in der DDR aufgelehnt haben. Denn diese Menschen haben ganz maßgeblich dazu beigetragen, dass das unmenschliche System der Repression und Verfolgung zu Fall gebracht wurde und dass wir ein solches Leben nicht mehr führen müssen. 

 

[Anrede], 

aber: das Leben in der Demokratie ist anstrengend. Für alles sind wir selbst verantwortlich. Das ist mühselig. Und dann die vielen Kompromisse, die entstehen, wenn nicht eine Partei allein regiert! 

Das macht es manchmal schwer, unsere jetzige Ordnung gut zu finden. Und dennoch ist sie es, auch wenn sie uns mehr abverlangt. Unsere Demokratie ist nicht perfekt – aber sie ist die beste, die wir haben. Sie lebt davon, dass Macht auf Zeit verliehen wird, dass Regierungen durch freie Wahlen abgelöst werden können. Sie lebt davon, dass unterschiedliche Meinungen nicht nur erlaubt sind, sondern ausgehalten werden – selbst dann, wenn sie schwer zu ertragen sind.


Demokratie heißt auch: Politik und Wirtschaft stehen im Austausch, aber Entscheidungen werden nicht von Oligarchen oder Tech-Milliardären getroffen. Unsere Ordnung basiert nicht auf Einflusskäufen, sondern auf der Überzeugungskraft von Argumenten und auf der aktiven Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Es liegt an uns allen, dieses System lebendig zu halten. Indem wir mit Freunden, Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen sprechen – und uns immer wieder bewusstmachen: Das, was wir haben, ist nicht selbstverständlich. 

Demokratie braucht Engagement: Sie braucht Menschen, die Haltung zeigen, die sich einmischen, die nicht still in der Ecke sitzen, wenn es etwas zu tun gibt. Denn Themen wie sozialer Zusammenhalt, Solidarität und gesellschaftliches Miteinander lassen sich nicht in einer Gewinn- und Verlustrechnung bilanzieren. Sie entstehen durch Verantwortung, Respekt und das tägliche Handeln jedes Einzelnen.


Ich danke allen, die sich für unser demokratisches Gemeinwesen einsetzen – offen, mutig und mit klarem Kompass. Danke an das Organisationsteam für diese Konferenz. Ich wünsche Ihnen und euch einen guten Verlauf.


(Es gilt das gesprochene Wort)